Heft 17 ist erschienen

Die neue Nummer von Sozial.Geschichte Online ist als PDF auf DuEPublico erschienen. Das Heft enthält u. a. einen Forschungsbeitrag von Jörg Nowak über „Massenstreiks im Bausektor Brasiliens zwischen 2011 und 2014“, einen Beitrag Lisa Vollmers über „Die Berliner Mieter_innenbewegung zwischen lokalen Konflikten und globalen Widersprüchen“, einen Diskussionsbeitrag von Max Henninger, „Neues vom kranken Planeten. Zu einem Text aus dem Nachlass Guy Debords“, einen Rezensionsaufsatz von Ralf Ruckus über „Die andere Kulturrevolution – Wu Yichings Thesen zur historischen Krise des chinesischen Sozialismus“ und einen Nachruf Sven Gringmuths auf den Liedermacher Walter Mossmann: „Die Mühen der Ebene. Walter Mossmanns Flugblattlieder“.

Editorial

Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Einbrüche der letzten Jahre sind Streikbewegungen Ausdruck und Motor einer Krisendynamik, der das Kapital trotz immenser staatlicher Konjunktur- und Entwicklungspläne nicht entkommen kann. Streiks in BRICS-Staaten standen bereits im Mittelpunkt früherer Artikel in der Sozial.Geschichte Online, siehe die Beiträge von Ian Bekker und Lucien van der Walt, The 2010 Mass Strike in the State Sector, South Africa: Positive Achievements but Serious Problems (Heft 4/2010) und Wang Kan, Collective Awakening and Action of Chinese Workers: The 2010 Auto Workers’ Strike and its Effects (Heft 6/2011).

Diese Ausgabe beginnt in der Rubrik „Forschung“ mit dem Beitrag von Jörg Nowak, Massenstreiks im Bausektor Brasiliens zwischen 2011 und 2014. Mehrere Streikwellen von Hunderttausenden vorwiegend migrantischen Bauarbeitern erschütterten Brasilien in den letzten Jahren. In der Regel fanden sie auf Großbaustellen statt, die Teil staatlicher Entwicklungsprogramme sind. Oft umfassten sie die gewaltsame Zerstörung der schlechten Unterkünfte durch Bauarbeiter und führten zum Einsatz von Militärpolizei und anderen staatlichen Sicherheitsorganen. Organisiert von den Bauarbeitern an der Basis, breiteten sie sich in verschiedenen Teilen des Landes aus. Tarifabschlüsse wurden häufig von den Arbeitgebern gebrochen und führten zu weiteren Kämpfen. Nowaks Analyse folgt der Dynamik einer Bewegung, die, wie andere Protestbewegungen in Brasilien auch, gezeigt hat, dass die seit über zehn Jahren (mit-)regierende Arbeiterpartei (PT) ihren politischen Kredit verspielt hat und nicht mehr in der Lage ist, die Folgen der inländischen und weltweiten Krise abzufedern, ohne sozialen Widerstand zu provozieren.

Lisa Vollmer knüpft mit ihrem Forschungsbeitrag Die Berliner Mieter_innenbewegung zwischen lokalen Konflikten und globalen Widersprüchen an den im Heft 16/2015 veröffentlichten Aufsatz von Moritz Rinn, Florian Hohenstatt und Peter Birke über Gentrifizierung, Aktivismus und ‚Rollenspiele‘. Erfahrungen am Hamburger Stadtrand an (siehe auch Peter Birkes Aufsätze in Heft 13/2014 und Heft 3/2010). Vollmers Artikel bietet einen Überblick über die Berliner Proteste gegen Mietpreissteigerung und Verdrängung seit Mitte der 2000er Jahre. Privatisierungen, Deregulierung und „Finanzialisierung“ des Wohnungsmarkts im Kontext der Finanzkrise, neoliberale Einhegungen von „Gemeinschaft“ und die Inwertsetzung urbaner „Authentizität“ stellen, so Vollmer, globale „Widersprüche“ dar, mit denen die Bewegung konfrontiert wird. Vollmer betont deren Heterogenität, eine genauere Analyse der sozialen Zusammensetzung steht noch aus. Die Autorin schreibt eine Erfolgsgeschichte der Berliner Mieter_innenbewegung, die sich trotz aller Konflikte auf der „Suche nach einer übergreifenden politischen Kollektivität“ stadtweit vernetzen kann und die Anerkennung durch die parlamentarische Politik erreicht.

Die Diagnose einer „Finanzialisierung“ des Wohnungsmarktes verlangt nach einer differenzierteren theoretischen Perspektive auf Stadtentwicklung im „Finanzmarktkapitalismus“, die Immobilienblasen etwa im Zusammenhang mit langen Wellen erklärt und damit das Urbane als Terrain begreift, auf dem sich Mieter_innenproteste mit anderen sozialen Kämpfen verbinden. Der Protest illegalisierter Migrant_innen im städtischen Raum, ihre Aneignung von Wohnraum – ein Thema, das Vollmer nur am Rande streifen kann – fordert dazu heraus, eine Dichotomie von „Globalem“ und lokal bedrohter Lebenswelt zu überwinden und Verdrängungsprozesse in den Metropolen der Schwellen- und Entwicklungsländer vergleichend in den Blick zu nehmen (siehe Max Henningers Forschungsüberblick Zur Transformation des Urbanen in Heft 3/2010). Sozial.Geschichte Online wird die Reihe von Aufsätzen zum Thema Mieter_innenproteste fortführen.

In der Rubrik „Diskussion“ richtet Max Henninger in seinem Beitrag Neues vom kranken Planeten die Aufmerksamkeit auf einen bislang wenig rezipierten Aufsatz Guy Debords. Der Theoretiker der Situationistischen Internationale setzt sich in dem 1971 verfassten, posthum veröffentlichten Text mit dem damals neuen Thema der Umweltverschmutzung auseinander. Debord konstatiert die Parallelität zweier Bewegungen, die ein Fortwirken des Kapitalismus unmöglich machten: der Umweltzerstörung als höchstem Stadium der kapitalistischen Warenproduktion und der Revolution als Projekt der vollkommenen Zerstörung dieser Warenproduktion – die damit der Zerstörung des Planeten ein Ende bereite. Mit der globalen Inwertsetzung der Natur werden bei Debord Sozial- und Naturgeschichte, Politik und Biosphäre deckungsgleich. Seine einseitig politische Lösung: „totale Demokratie“ soll Zerstörung stoppen und eine weitere Entfaltung der Produktivkräfte ermöglichen. Die Darstellung der neuesten Forschungsergebnisse zum anthropogenen Klimawandel und der politischen Lösungsversuche der ökologischen Krise verdichtet Henninger im nüchternen Fazit, dass den Analysen Debords, auch seiner Ablehnung des „grünen“ Reformismus einer Green Economy und des asketischen Verzichts einer Degrowth-Bewegung, nichts hinzuzufügen sei. Nach einer mehr als vierzigjährigen Geschichte, die Umweltkrise durch nationale und supranationale Institutionen im Rahmen kapitalistischer Naturverhältnisse zu regulieren – die UN-Klimakonferenz in Paris beginnt Ende November 2015 – gibt sich Max Henninger bezüglich der Chancen einer linksradikalen Ökologiebewegung pessimistisch.

Zumindest Debords Diagnose, dass im Angesicht des „planetaren“ Todes alle gleich seien, hat sich noch nicht bewahrheitet. Der Hurrikan Katrina, „Klimaflüchtlinge“, indigene Kämpfe um Ernährungssouveränität oder gegen eine Kommodifizierung des Regenwalds als Kohlenstoffspeicher verdeutlichen, dass die Risiken der planetaren kapitalistischen Katastrophe sozial und räumlich äußerst ungleich verteilt sind – und damit auch die Entwicklungschancen einer neuen antikapitalistischen ökologischen „Massenradikalität“.

Aufgrund seines Umfangs haben wir Ralf Ruckus’ Beitrag Die andere Kulturrevolution. Wu Yichings Thesen zur historischen Krise des chinesischen Sozialismus, in der er einer alternativen Erzählung der einschneidenden Ereignisse Mitte der 1960er Jahre in China folgt, eine eigene Rubrik „Rezensionsaufsatz“ gewährt. Wu Yiching erkennt in den historischen Diskursen eine „Lücke“, da die Transformation Chinas von den einen als bloßer Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus dargestellt wird, während die anderen den Sozialismus selbst unkritisch und verklärend beschreiben. In seinem Buch legt Wu einige Mythen der Geschichtsschreibung zur Kulturrevolution offen, um, wie er betont, historisches Wissen über die damaligen Kämpfe wiederzugewinnen und „unserem aktuellen Projekt einer Neufassung egalitärer Politik“ zur Verfügung zu stellen. Die zentralen Erzählstränge des Buches werden im Rezensionsaufsatz wiedergegeben – die Entwicklung einer maoistischen Klassengesellschaft, die Mobilisierung der Roten Garden in Beijing, das Aufkommen politischer Kritik an der Parteiherrschaft aus den Reihen der jungen Rebell_innen, die Bewegungen von Arbeiter_innen in Shanghai, die Mobilisierung von Linksradikalen der Shengwulian in Hunan, die Wiederherstellung der Parteiherrschaft durch das Eingreifen der Volksarmee und die Unterdrückung der rebellischen Teile der Bewegung. Der Führung der Kommunistischen Partei Chinas, die dem drohenden revolutionären Umschwung gerade so entgangen war, blieb nach der Niederschlagung der Kulturrevolution nur die Flucht nach vorne: Wiederherstellung der politischen Kontrolle, wirtschaftliche Reformen und Annäherung an den Westen. Der Anfang vom Ende des Maoismus begann, so zeigt Wu, nicht erst mit dem offiziellen Beginn der Reformen 1978, sondern bereits Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre – und damit noch vor Maos Tod 1976.

Der Abschnitt „Rezensionen“ beginnt mit einem weiteren Beitrag zur Entwicklung in China. Ralf Ruckus bespricht das Buch von Florian Butollo The End of Cheap Labour? Industrial Transformation and “Social Upgrading” in China. Butollo untersucht, ob der Kommunistischen Partei Chinas die spätestens seit Mitte der 2000er Jahre anvisierte wirtschaftliche Transformation – weg von der Exportabhängigkeit und der Herstellung billiger Konsumgüter hin zu höherem inländischen Konsum und der Produktion hochwertiger Güter – gelingt und ob diese Prozesse des Wiederausgleichs (rebalancing) und der Aufwertung (upgrading) eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter_innen mit sich bringen. Anhand seiner Fallstudien aus der „alten“ Textil- und Bekleidungsindustrie sowie der „neuen“ LED-Industrie lässt sich nachvollziehen, dass es in diesen Sektoren tatsächlich zu staatlich geförderten Aufwertungsprozessen gekommen ist, allerdings ohne dass die exportorientierten Niedriglohnsektoren verschwunden wären oder sich die Bedingungen für die Arbeiter_innen in diesen Sektoren aufgrund der Aufwertung merklich verbessert hätten.

Raiko Hannemann stellt Enrico Heitzers Buch Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948–1959 vor. Heitzer zerstört laut Hannemann verbreitete Mythen um die umstrittene KgU, „die entweder als humanitärer Suchdienst oder faschistische Geheimorganisation galt“. Das Buch beleuchtet die Organisationsgeschichte der KgU, analysiert die Biografien der beteiligten Personen, untersucht die Ge­heimaktionen und beschäftigt sich auch mit den Gegenmaßnahmen, unter anderem des MfS der DDR.

Thomas Gräfe diskutiert Susanne Weins Buch Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik. Wein unterscheidet in ihrer Analyse des antisemitischen Sprachverhaltens der Abgeordneten und Parteien in der Weimarer Republik „manifesten, codierten und kaschierten Antisemitismus“ und stellt fest, dass sich die judenfeindliche Sprache im Reichstag zunehmend verschärfte. Sie betont, dass vermeintlich gemäßigte Sprachmodi, die judenfeindliche Inhalte in codierter oder kaschierter Form transportieren, untersucht werden müssen, um die Rolle parlamentarischer Debatten für die Diffusion des Antisemitismus in der Gesellschaft nachvollziehen zu können.

Christoph Gollasch rezensiert das Buch „Die Massen sind aber nicht zu halten gewesen.“ Zur Streik- und Sozialisierungsbewegung im Ruhrgebiet 1918/19 von Felix Bluhm, der die Streiks der in Hamborn gelegenen Zeche „Gewerkschaft Deutscher Kaiser“ (GDK) aus alltagsgeschichtlicher Perspektive untersucht. In der Folge der Novemberrevolution kam es dort zur Formierung eines Arbeiter- und Soldatenrats, zu zahlreichen Streiks und zu Zusammenstößen von Polizei und Protestierenden. Die Bewegung weitete sich schließlich in fast alle Bergwerke des Ruhrgebiets aus, aber laut Bluhm nicht aufgrund der Schulungen und politischen Bewusstseinsbildung durch die Organisationen der Arbeiterbewegung, sondern auf Grundlage der Praxis des Arbeitskampfes selbst.

Am Schluss dieser Ausgabe würdigt Sven Gringmuth in seinem Nachruf Die Mühen der Ebene. Walter Mossmanns Flugblattlieder Leben und Werk des bekannten Liedermachers und Aktivisten der Anti-AKW-Bewegung, der am 29. Mai 2015 im Alter von 73 Jahren verstorben ist. Als Mossmann, der der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts freundschaftlich verbunden war, seinen Artikel über Linke Lieder, Rechte Lieder – Alles aus einem Guss? Anmerkungen zum völkischen Folkrevival nach 1989 für Heft 15/2015 der Sozial.Geschichte Online fertigstellte, war er bereits schwer erkrankt. Mossmann, Ende der 1960er Jahre im Freiburger SDS sozialisiert, einige Zeit Rundfunkredakteur beim Südwestfunk, gelangte Anfang der 1970er Jahre in Kontakt mit der Bewegung gegen das Kernkraftwerk Wyhl. Wie die Mieter_innenbewegung war die Anti-AKW-Bewegung durch soziale Heterogenität geprägt und durch eine Radikalität, die sich weniger aus einer dezidiert linken Perspektive denn aus lebensweltlicher Betroffenheit speiste. Mit Nachdruck hat Mossmann auf einen blinden Fleck in der Geschichte der außerparlamentarischen Bewegungen in der Bundesrepublik der 1970er Jahre hingewiesen: das Verhältnis der Linken zur Ökologiebewegung. Mossmanns Ausführungen über das spannungsvolle Verhältnis der Bürgerbewegung aus der „Provinz“ zur Neuen Linken – etwa über die harsche Kritik, mit der sich Rudi Dutschke hier auseinandersetzen musste –, lesen sich äußerst spannend, stellen sie doch die Frage, wie sich Handlungsfähigkeit antikapitalistischer Bewegungen zwischen Bündnis, Abgrenzung und Kooption herstellen lässt. Gringmuth stellt in seinem Aufsatz die Vielfalt der politischen Themen Mossmanns vor, der mit seinen Liedern und in zahlreichen Kampagnen zum Eingreifen und zur Solidarität aufrief: Proteste gegen staatliche Repression, gegen die Selbstzensur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Einsatz für politische Gefangene, Engagement für die Ziele der Hausbesetzerbewegung. Vehement wehrte sich Mossmann in den 1990er Jahren gegen die Vereinnahmung der Anti-AKW-Bewegung als Vorläuferin der Grünen Partei – und gegen ihre reformistische Vorstellung einer kapitalistischen Green Economy, die bereits Guy Debord verurteilt hatte.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Die Redaktion (November 2015)